Und da ist sie wieder, die Zinsangst. Kaum steigt in den USA die Rendite für die zehnjährige Staatsanleihe auf drei Prozent, rufen viele schon wieder das Ende der Attraktivität von Aktien gegenüber Anleihen aus. Und auch wenn die Mehrheit mir zustimmen wird, dass die Mitglieder der Europäischen Zentralbank auf ihrer heutigen Sitzung nicht mit einer Überraschung in Sachen Zinserhöhung aufwarten und ein erster solcher Schritt eher im späteren Verlauf des Jahres 2019 kommen wird, werden auch hier die Stimmen lauter, dass die Eurozone vor einer Zinswende steht. Wie weit diese gehen kann oder auch nicht, bedarf einer genaueren Betrachtung.
Was waren das noch für Zeiten, in denen sich die Zentralbanken lediglich dem Ziel der Geldwertstabilität verschrieben haben? In den 90ern hätte noch kein Geldpolitiker zugegeben, was heute normal ist. Die Notenbanken steuern die Konjunktur. Und hier arbeiten Sie mit dem theoretischen Konzept eines neutralen Gleichgewichtszinses, der weder expansiv noch rezessiv wirkt. Und einige werden sich noch aus der Uni erinnern, dass dieses Zinsniveau dem jährlichen Potenzialwachstum plus Inflation entspricht.
Schauen wir uns zunächst das Potenzialwachstum an, also die langfristige Veränderung des Bruttoinlandsprodukts bei einem normalen Auslastungsgrad der Produktionskapazitäten: Hier finden wir in den meisten entwickelten Industrienationen, vor allem aber in Europa, den USA und erst Recht Japan eine immer schneller alternde Bevölkerung, einen bereits hohen Automatisierungsgrad, der zu niedrigeren zusätzlichen Effizienzgewinnen führt sowie eine geringe Investitionsneigung vor. Das legt den Schlussnahe, dass die Wachstumsrate des Produktionspotentials aktuell und zukünftig tendenziell niedriger sein muss als in vergangenen Jahrzehnten.
Und wie sieht es mit der Inflation aus? Die wesentliche Determinante für die Inflation ist die erwartete Lohnpreissteigerung. Und die hängt letztlich vom Grad der volkswirtschaftlichen Beschäftigungshöhe ab. Und hier gilt in der Regel, je geringer die Arbeitslosenquote, desto enger ist der Arbeitsmarkt und desto schneller steigen die Löhne und mithin die Preise, sprich die Inflation. Auffällig ist allerdings, dass sich dieser Zusammenhang in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Industrieländern immer weiter abgeflacht hat. Deutschland ist ein gutes Beispiel. Die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen Jahren stetig gesunken, gleichzeitig ist die Inflation kaum gestiegen.
Nun stellt sich die Frage, ob sich denn die Messung der Arbeitslosenquote und der Inflation überhaupt noch mit den Messungen früherer Jahre vergleichen lässt und die Abflachung der sogenannten Phillips-Kurve schlicht und einfach ein Resultat von veränderten Messmethoden ist.
So ist zum Beispiel der Rückgang der Arbeitslosenquote in Deutschland seit einigen Jahren nicht nur auf die gute Konjunktur, sondern auch darauf zurückzuführen, dass sukzessiv Arbeitslosengruppen aus der Statistik herausgerechnet werden. Nach dem Motto „arbeitssuchend“ ist nicht „arbeitslos“, fallen mittlerweile Ein-Euro-Jobber, Aufstocker, Langzeitarbeitslose, über 58-Jährige, Teilnehmer an Weiterbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen, Kinderziehende, Angehörige pflegende, Krankgeschriebene und viele mehr aus der Statistik heraus. Gleiches ist übrigens in den USA der Fall.
Verdeckter, aber noch gravierender sind die Änderungen in der Messung der Inflationsrate. Jeder, der am realen Leben teilnimmt, nimmt nahezu täglich wahr, dass die Schere zwischen der in den Medien gern herumgereichten „gefühlten“ Inflation und der tatsächlich gemessenen Inflation immer weiter aufgeht. Wobei die beiden Begriffe irreführend sind. Richtig wäre vielmehr die Unterscheidung zwischen tatsächlicher Inflation und ausgewiesener Inflation. Und dass diese Differenz immer größer wird, ist im Wesentlichen auf zwei Änderungen in der statistischen Berechnung der Inflationsraten zurückzuführen. Zum einen durch die unterjährige Anpassung der Warenkörbe, bei der Produkte und Dienstleistungen, die aufgrund saisonaler oder sonstiger Preiserhöhungen überdurchschnittlich teuer geworden sind, durch billigere Substitute ersetzt werden. Genauso wirkt die hedonistische Preisbereinigung, mit der vermeintliche oder auch tatsächliche technische Fortschritte auf immer mehr Produkte und mittlerweile auch Dienstleistungen ausgedehnt werden. Das führt dazu, dass sich die ausgewiesene Inflationsrate immer weiter von der tatsächlichen Inflationsrate entfernt. Messungen in den USA seit Anfang der 1980er Jahre haben ergeben, dass die tatsächliche rund drei bis vier Prozentpunkte über der ausgewiesenen Inflation liegt. Man kann davon ausgehen, dass die Divergenzen ähnlich auch für Europa und insbesondere Deutschland gelten.
Im Ergebnis führt dies zu einem negativen Realzins, d.h. es findet eine Enteignung des Sparers statt. Selbstverständlich ist eine niedrige ausgewiesene Inflationsrate politisch gewollt, um einerseits die Wähler nicht zu beunruhigen und andererseits hilft dieser negative Realzins den Staaten zumindest ein Stück weit, den Anstieg der Staatsverschuldung zu bremsen bzw. im Idealfall zu reduzieren.
Umgemünzt auf den Zusammenhang zwischen Inflationsrate und Beschäftigungsquote beschleicht einen damit das Gefühl, dass man durch die Veränderung der Berechnungsmethoden mittlerweile in der historischen Betrachtung Äpfel mit Birnen vergleicht. Doch selbst, wenn man diesen Eindruck beiseite wischt, lässt sich der geringer werdende Zusammenhang zwischen Inflation und Beschäftigungsquote über die letzten Jahrzehnte in den Industrieländern plausibel erklären.
Während in den Anfangszeiten der Globalisierung noch die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer dominierte, ist es heute eher die Automatisierung und Digitalisierung, die Lohnpreissteigerungen entgegenwirkt. Preissteigerungen sind kaum durchzusetzen, solange es im Ausland genügend billige Kapazitäten gibt. Somit können in den Industrieländern kaum preistreibende Angebotsengpässe für Güter und Dienstleistungen entstehen, die sich aus dem Ausland importieren lassen. Zusätzlich hat auch der Trend zum Outsourcing bis hin zum immer grösser werdenden Sektor von prekären Arbeitsverhältnissen sein Übriges getan, was Ergebnis des sinkenden Einflusses der Gewerkschaften in der Old Economy und eines quasi nicht vorhandenen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in den Jobs der Wissensökonomie ist. Letztendlich trägt auch die demografische Entwicklung hin zu einer alternden Bevölkerung in den Industrieländern dazu bei, dass sich Löhne und Preise voneinander entkoppelt haben. Allein wegen der alternden Bevölkerung ist ein Rückgang der Arbeitslosenquote zu verzeichnen.
Ganz nebenbei stellt sich im Übrigen die Frage, ob die Inflation von Gütern und Dienstleistungen überhaupt noch die richtige Messgröße für Preissteigerungen ist. Denn die einzig wahre Inflation ist aktuell in den Vermögenspreisen zu finden. Die Preissteigerungen von Aktien, Immobilien und anderen Vermögensgegenständen wird allerdings in der konventionellen Inflationsmessung überhaupt nicht abgebildet.
Egal welchen Weg man geht, mit Blick auf das Potenzialwachstum und die Inflation muss der neutrale Gleichgewichtszins in Zukunft deutlich niedriger liegen als in früheren konjunkturellen Aufschwüngen. Legt man zum Beispiel für den Euroraum ein jährliches Potenzialwachstum von einem Prozent zugrunde, das durch Effizienzgewinne von einem halben Prozent zu einem Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent führen kann, und geht man von einer Inflation von zwei Prozent aus, kann der neutrale Gleichgewichtszins nicht über drei Prozent liegen. Für die Leitzinsen in der Eurozone bedeutet dies, dass diese langfristig unter diese Marke verharren werden, da ansonsten die strukturell schwächeren Länder in Südeuropa massive Probleme bekämen. Auch im weltweiten Maßstab ist es politisch nicht gewollt, dass die Zinsen deutlich steigen, da ansonsten angesichts der Staatsverschuldung vieler Länder die Zinslast den Staatshaushalt sprengen würde. Der aktuelle Zinsanstieg ist somit lediglich ein Stück Rückkehr zur Normalität und letztendlich ein positives Signal dafür, dass die Konjunktur offenbar so robust ist, dass sie höhere Zinsen verträgt. Das heißt aber auch, damit wären Aktien mit im Schnitt allein höheren Dividendenrenditen von mehr als drei Prozent immer noch attraktiv, wenn der Leitzins in der Eurozone in ein paar Jahren am oberen Ende des Möglichen angelangt ist. Und jetzt sind sie es allemal.